Das ist ein höchstpersönlicher Bericht über Tod und Neugeburt, Trauma und seine Folgen, Anpassung für Zugehörigkeit und Bindungsmuster – Sterben und Warten auf die Geburt des Neuen, des wahren, nackten Ichs. Es ist hoffentlich eine Brücke für die Menschen, die zwischen einem alten Ich und dem wahren Selbst hängen, so, wie ich, seit sie starb. Mir ist bewusst, dass es da draußen eine Vielfalt an „Hilfestellungen“ gibt, die sich entweder auf der Seite „Ich bin gut genug, so wie ich bin“ oder „Werde endlich du SELBST“ positionieren. Noch bewusster möchte ich mit meinen Worten machen, dass es NIE nur etwas mit uns selbst zu tun hat, sondern IMMER transgenerationale Familien- und kollektive Identitätsstrukturen eine Rolle spielen. Mein Riesendank geht an eine meiner Stammkundinnen, die die Entstehung dieses Blogposts durch unseren Austausch erst angeregte.
PS: Ich möchte mich vorab für die Länge entschuldigen. Einige Themen brauche einfach Platz. Nimm mit, was dir gut tut.
Über Tod und Neugeburt
Ich sitze auf der Kante meines Bettes. Um mich herum ist es still. (Ich weiß bis heute nicht, ob es eine leere Stille oder eine stille Leere war, die ich in diesen Momenten in mir vergrub. Ich weiß nur: Ich habe sie mitgenommen in die kommende Jahre, die folgten. Oder vielleicht nahm sie auch mich mit.) Meine Mutter ist noch auf der Arbeit, die Schule ist aus. Meine Hausaufgaben warten auf mich, aber ich warte auf SIE. Der Rest ist bedeutungslos – als gäbe es nichts neben ihr, vor ihr. Sie ist alles, was IST – zumindest in meiner Welt.
Meine Mutter war nach dem Tod meiner Großmutter wie eine Tante, eine Person, die meine gefühlte Mutter – archetypisch würde man sagen „Die große Mutter“ – nur schemenhaft ersetzen konnte. Sie hatte mich 5 1/2 Jahre lang tagtäglich abgeholt, wenn sie arbeiten war – eine Art Konsum (heute: Tante-Emma-Laden) in einem Einkaufscenter auf einem Dorf in Mecklenburg. Es war streng bewacht durch Stasi-Beamte, die jeden ihrer Schritte beobachteten – genauso wie jeden Schritt aller anderen.
Meine Oma lebte jahrelang in einer Persona – nur bei mir war sie SIE, als wäre sie erst durch meine Geburt neu ins Leben gekommen, als hätte ich ihr Lebenskraft eingeatmet, sie neu erweckt, erinnert. Sie stand früh auf, ging arbeiten, kam zurück nach Hause, kümmerte sich um Haushalt, Essen und ihren Mann – später auch mich. Dann ging sie wieder ins Bett. Immer, wenn meine Mama von ihr erzählt, fühlt es sich an, als hätte sie 20-Stunden-Tage gehabt – über Jahre hinweg. Sie sagte auch und wiederholt es bis heute: „Sie hat nie mit jemanden darüber geredet, wie es ihr wirklich ging. Weder über ihren Mann [meinen Großvater] noch über ihre Gefühle.“
Mein Körper wartet bis heute darauf, dass sie mich abholt: zwischen 14 und 17 Uhr. Ich brauche die Uhr nicht danach zu stellen. Das Uhrwerk bin ich. Sie kommt wieder und holt mich zurück zu sich. Dann fühle ich mich wieder sicher. Wenn du dich etwas mit Psychologie auskennst, weißt du, was das als Ursache hat: ZELLGEDÄCHTNIS. Mein Körper hat diese frühen Erfahrungen abgespeichert – ein wiederkehrendes, wichtiges Erlebnis.
In meiner Erinnerung existieren die Tage mit meiner Mutter nicht: Sie arbeitete einen Großteil der Woche in einer anderen Stadt und war rund 2-3 Tage da. Sie konnte mich nicht stillen, also bekam ich Stillpulver (was zumindest in der DDR-Zusammensetzung nachweislich Allergien & Nahrungsträglichkeiten auslöste). Vielleicht erinnert sich mein Körper deshalb nicht an meine Mama, nur an meine Zieh- aka Großeltern. Es ist ein tiefes Bedauern, wie eine Schuld, die ich trage, als würde mein Körper sich weigern, meine Mutter zu ehren – und alles, was sie je für mich/unsere kleine Familie getan hat. Und das war nicht wenig. Wenn ich ein Vorbild für eine Kämpferin, KRIEGERIN habe, dann ist es sie. Es gibt in ihrem Universum kein Aufgeben. Es gibt nur WEGE. Sie fand sie immer. Und doch weiß ich: Sie nimmt es mir nicht übel, weil wir beide fühlten, dass in jedem von uns etwas starb, als meine Oma starb. Es ist das, was uns bis heute verbindet: Leben mit dem TOD.
Wer mir schon länger folgt oder meine Publikationen kennt, weiß, dass meine Familiengeschichte noch dunklere Geheimnisse innehatte, die sich aber mit dem Tod meiner Großmutter „auflösten“. Meine Mutter – sie hat wirklich die Rebellion gepachtet, weil sie neurodivergent ist -, sprach nur darüber, wenn ich sie gefühlt dazu „zwang“. Nicht nur konnte sie sich selbst an vieles nicht erinnern, als hätte ihr Gehirn es verschluckt und ganz tief in sich verborgen. Typisch Trauma. Sie wollte auch nicht, dass ich mit bestimmten Bildern unserer Familie in meine Zukunft gehe. Kein anderer, erst recht nicht ich, sollte die Verantwortung der vielen Geschehnisse mittragen müssen. Leider brachte das weniger Licht ins familiäre Dunkel, als mir lieb gewesen war. Ich hörte folglich nie auf, MICH in dieser – unserer – Familiengeschichte zu suchen und verstehen zu wollen, wer wir WIRKLICH waren. Denn scheinbar versteckte sich jeder vor den Augen der Öffentlichkeit und präsentierte nur die sozial akzeptierte Maske.
Doch wer waren WIR – vor und nach ihrem Tod – wirklich?
Das klingt jetzt alles sehr schlimm. Worauf ich mich beziehe, geht aber im Wesentlichen auf die körperlichen, emotionalen und psychischen Erfahrungen der (Nach-)Kriegsgenerationen, Enteignung, Heimatflucht, gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und der Stasi zurück. Der Zwang zur Anpassung inkl. sozialer Verhaltensnormen hing immer wie ein Schwert über unseren Köpfen. Meine Familie war seit jeher mit schwerer Arbeit, Armut, Verlust materieller Güter bis hin zum Tod von Elternteilen konfrontiert, eine ständige Angst, die sich durch mehrere Generationen zog. Aber wenn meine Familie eines hervorbrachte, dann starke Frauen, die sich von nichts und niemandem brechen ließen – und Männer, die bis über den Tod hinaus liebten und (leider) niemals verziehen.
Weder schwachen Frauen noch gehorsamsfordernden oder „nutzlosen“ Männern. Das spiegelt allein die Beziehung zwischen meinem Großvater und Onkel wider oder auch die, die er zu seiner eigenen Mutter hatte, die seinen Vater in seinen jugendlichen Augen „einfach vergaß“ und einen neuen Partner wählte (was damals normal war, wenn jemand im Krieg geblieben war – Frauen „brauchten“ Männer an ihrer Seite). Was das mit ihm machte, wissen wir bis heute nicht, weil er nie darüber gesprochen hatte. Wir wissen nur, dass er zum Ende seines Lebens hin, als sich ernste gesundheitliche Probleme ausbreiteten und er den Tod erneut fürchten lernte, der Kirche beitrat und dort im Glauben und der Gemeinschaft Halt gefunden zu haben schien – auch wenn der Gedanke an seine verstorbene Frau ihn bis ins Sterbebett begleitete.
Auf der Suche nach der Landkarte für meine Seele
Bis zu meiner Pubertät existierte ich gefühlt nicht. Es gab nur das Leben der anderen und das Leben in meinem Kopf – ganz typisch für Kinder/Jugendliche mit einem Bindungstrauma. Im Kopf kann alles gut gehen, nichts muss sterben, alles kann blühen. Schmerz und Trauer, Trennungen und abwesende Liebe konnte ich in meinem Kopf ausblenden: Träumen wurde mein sicherer Hort für ein sicheres Leben mit meinem Ich. Wie Geschichten, die mich begleiteten, seit ich Denken und Lesen konnte. Erst mit den wichtigen, typisch jugendlichen Freundschaften – und die Schule überleben, danach abhängen, feiern, sich am Montag verlieben und am Donnerstag nicht mehr mögen sowie andere nutzlose Kostproben des Erwachsenseins – begann ich, wieder bewusst zu atmen und mehr zu sehen und zu fühlen, als das, was fehlte.
Meine eingangs erwähnte Kundin klagte über eine wiederkehrende Situation in ihrem Leben: Sie HANDELT in Richtung Liebe und Beziehung und landet, ohne dass sie es versteht, „irgendwie“ im WARTEMODUS darauf, dass ihr das Gegenüber antwortet. Das Warten macht sie wütend, wirft eine Frage nach der nächsten auf und lässt sie ungewollt jede Leere und Getrenntsein spüren, wo Fülle und Verbundenheit herrschen könnten. Es ist eine Sehnsucht, die viele von uns kennen, die in ihrer Kindheit in einem emotional turbulenten oder lieblosen bzw. mangelvollen Umfeld aufwuchsen. In einem Umfeld, in der Vorsicht herrschte oder Vorsicht zum sicherheitsspendenden Instrument wurde. Denn, wenn ich sehe, was hier vor sich geht, wie es gerade um jemanden bestellt ist, wie er sich fühlt und was, dann kann ich mich anpassen und vermeiden, die Situation noch zu verschlimmern.
So bleibe ich sicher.
Es ist laut Bernes Transaktionsanalyse das „angepasste Kind-Ich“. Dem gegenüber steht das „trotzige Kind-Ich“, was seine Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und liebevoller Sicherheit kennt und nicht gewillt ist, seine Bedürfnisse zu vergessen oder zu verdrängen. Es poltert, macht Unfug und Fehler, geht gegen die Leere oder Anpassung an, sorgt für überraschte Blicke bis hin zu schüttelnden Köpfen – für Zuwendung – durch trotzige Verhaltensweisen. Viele von uns sind bis ins Erwachsenenalter noch mit diesen Kind-Ich-Zuständen identitifziert – der Körper und Geist reagieren auf ähnliche Situationen exakt so, wie wir es früher taten.
Oder wir machen das genaue Gegenteil, um zu verhindern, dass die Vergangenheit sich wiederholt. Beides ist eine Form der Kontrolle und Sicherung der Existenz – so, wie wir uns wahrnehmen und gut fühlen. Um zu wissen, wo wir hingehören – um zu wissen, dass wir irgendwo hingehören. Denn jeder sehnt sich danach, zu wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Oder, um es mit den Worten von Antoine de Saint-Exupery zu sagen:
„Wenn das Geheimnis zu eindrucksvoll ist, wagt man nicht zu widerstehen.“
(de Saint-Exupery, Antoine: Der kleine Prinz. Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb. Karl Rauch Verlag GmbH. Düsseldorf, 2010. 66. Auflage.)
Wenn man den Himmel vor lauter Erde nicht sieht
Das Problem daran ist, dass ein Leben in der Vergangenheit zwangsläufig bedeutet, dass wir das Vergangene reinszenieren – wiederholen (oft unbewusst) -, aus tiefstem Herzen, sei es gefüllt mit Schmerz oder Freude über das, was einst war. Aus der Energie des Vergangenen heraus, mit allem Schweren, Abwesenden, Leidvollen oder einst Guten kann nichts Neu-Gutes entstehen, denn es wird aus der Mangelfrequenz heraus gezeugt und geboren – aus SCHMERZ, nicht aus Dankbarkeit.
Schmerz
- weil man nicht loslassen kann, all die Zellen und Gedanken noch im Früher hängen und dort wieder und wieder ihre Schleifen drehen, um zu verstehen und wenigstens ein sicheres Gefühl zu finden
- weil man nicht akzeptiert, was geschehen ist
- weil man nicht weiß, wer man OHNE das ist
- weil man die Zeit zurückdrehen will, aber es nicht kann
- und erkennen MUSS, wie machtlos man dem Früher und Leben danach gegenübersteht.
Als Folge des Festhaltens splittert unsere Identität, das Ich fragmentiert. Fortan fehlt ein Stück Leben, an dem wir in unserem Körper festhalten. Wir weigern uns, es fallenzulassen. Uns in Nichts fallenzulassen – mit all unserem Drang nach Kontrolle. So schleppen wir es hinter uns her, wie ein Kreuz, ohne das wir zu leicht abheben könnten – nur Gott weiß, wohin.
In der integrativen Bewusstseinsforschung – oder gern auch „nur“ in der Achtsamkeitsforschung heißt es oft, dass das Leben im Jetzt alles sei, was möglich und sinnvoll ist. Das fällt, so glaube ich, schon Menschen schwer, die keine schwerwiegenden Lebensereignisse in ihrem Herzen tragen. Doch je mehr „anders“ du bist, je mehr „Schweres“ du hinter dir hast, umso unwahrscheinlicher ist es, dass dir das gelingt. Zu oft wird das, was du nicht verstehst, und all die Zeiten, in denen ein Stück von dir verlorenging, dir wieder ins Gedächtnis kommen, falls du nicht sowieso täglich daran denkst. (Die meisten von uns denken täglich daran, wenn es uns auch nicht gleichermaßen schwer herunterzieht.)
Es gibt auch viele, die Tage bis Zeiträume beschreiben, in denen sie bewusst nicht daran denken – die doch am Ende nickend und Lippen schürzend zugeben, dass es unterbewusst „mit dabei war“: beim Einkaufen, Hausaufgaben mit den Kindern machen, arbeiten, kochen oder selbst im Bett mit dem Partner. Sie stehen unbewusst morgens damit auf und gehen abends unbewusst damit ins Bett. Erlebnisse sind immer bei dir, solange sie nicht integriert und transformiert – in der inneren Alchemie nach dem Schweizer Psychiater C. G. Jung – transmutiert werden.
Transformation bezeichnet immer eine sichtbare, strukturelle oder funktionale Veränderung. Etwas bleibt in deinem Wesenskern erkennbar, verändert aber seine Form, seine Eigenschaften oder sein Verhalten. Ein Mensch „verändert“ etwas, indem er bestehende Aspekte seines Ichs oder Lebens neu ordnet, ersetzt, erweitert oder optimiert. Es geschieht in Phasen und ist ein Prozess, der das „Bekannte“ auf eine höhere Stufe hebt.
Transmutation aber ist ein viel grundsätzlicher Vorgang. Hier wandelt sich nicht nur die Form, sondern deine Substanz. Etwas verliert seine ursprüngliche Qualität und erhält eine neue, mit dem Vorherigen nicht mehr kompatible Qualität. Blei wird zu Gold, nicht zu einem „besseren Blei“. Du veränderst also nicht dein bestehendes Muster, sondern der Identitätsteil dahinter löst sich und eine völlig neue Grundlage tritt an seine Stelle.
Während Transformation bestehende blinde Flecken und Schattenstrukturen unangetastet lassen kann, weil sie lediglich die Oberfläche neu gestaltet, bringt Transmutation das, was in deinem Inneren unstimmig mit dem WAHREN, REALEN ist (innen und außen sind ungleich), in die Auflösung und ersetzt es durch etwas, das diesen Widerspruch nicht mehr enthält. Transmutation verhindert also zum Beispiel, dass du alte Rollenbilder und Mechanismen weiter reproduzierst und stattdessen etwas erschaffst/gebärst, das mit deiner neu entwickelten inneren Substanz übereinstimmt. Transmutation ist radikaler, nachhaltiger und schließt die Schattenintegration (alles Verdrängte an Ängsten, Sehnsüchten, Unbequemen und Abgelehnten) mit ein.
An sich eine Supersache, gebe es da nicht dieses kleine Problem …
Der Kampf gegen den Tod ODER Auf der Suche nach einem sicheren Platz für mein Ich
Ich suchte jahrelang nach einem sicheren Ort für mein Ich: in Büchern, Videos, Webinaren, Beratungen, Coachings bis hin zu Therapien. Ja, ich musste aus dem alten Ich herauswachsen, es loslassen und die bittere Wahrheit schlucken, dass ICH es gewesen war, die mein ICH maskiert hatte. WEIL ICH es gewesen war, die wesentliche Teile ihres Ichs verborgen hatte – und es war Zeit, das Alte loszulassen. Schweigen ist ein Fluch und wird leicht zum Schicksal. Man vergräbt zu viel von sich und der eigenen Wahrheit in dunkler Stille.
Ich musste mir endlich eingestehen, wer ICH wirklich war und was dieses ICH in diesem Leben in dieser Welt wirklich erreichen wollte. Ich musste vor allem endlich erkennen, wie sehr ich bisher (unbemerkt) gewachsen war – raus aus Umfeldern, die mir sicher erschienen, aber nur solange, wie ich in meinem alten Ich gefangen blieb und nicht gegen mein wahres Inneres ankämpfte. Nur ein kurzes Aufblitzen meines Ichs hatte mitunter gereicht, um einen Raum voller Menschen zu schockieren oder zumindest zu verwundern á la:
„Alles okay?“
Denn, wann immer ich meine wirklichen Seiten zeigte – samt aller neuer, die ich entwickelt hatte -, begannen andere gegen mich – in neuen Kleidern – zu kämpfen, als würden sie schreien: „Zurück auf deinen Platz!“ Und war es auch nur eine Projektion, so blieb es doch Spiegel meines Inneren im Außen. Dass mein altes Ich die Suche nach MIR in diesem Umfeld schon vor Langem begonnen hatte und sich unentwegt fragte, „Kann ich mich hier wirklich FINDEN?“, wussten sie nicht. Irgendwann gab es diesen einen Zeitpunkt, an dem ich mir erlaubte, einfach nur noch „die Komische“ oder „Anstrengende“ zu sein. „Ja, ich bin okay, auch wenn ich in ihrer Geschichte der Feind bin.“ Ich hatte keine Kraft mehr, mich dem „Normativen“ anzupassen oder anders ausgedrückt: in der Normalverteilung nicht unangenehm aufzufallen.
Da es in diesem Blogpost um Tod und Neugeburt geht, will ich die Kehrseite von Trauma im Positiven nicht unbeleuchtet lassen:
Früh-Traumatisierte besitzen außergewöhnliche Fähigkeiten – etwa in puncto Empathie, Kreativität, Reaktionsschnelligkeit und Durchhaltevermögen -, die in einem „normalen“ Umfeld kaum ausgebildet würden, weil sie früher notwendig waren, um in einer feindlichen oder überfordernden Umwelt zu überleben.
Die Entwicklungspsychologie, Traumaforschung und Neurobiologie beschreiben diese Fähigkeiten präzise, u. a.:
Hypervigilanz und scharfe Wahrnehmung: Traumatisierte scannen ihre Umgebung permanent auf Gefahr, was zu einer außergewöhnlich schnellen Intuition und Reaktionsfähigkeit auf Stimmungen, Körpersprache und unausgesprochene Konflikte führt. Damit einhergehend: Empathie als Überlebensstrategie. Um Misshandlungen oder Ablehnung vorzubeugen, entwickeln viele eine ganz besonders feine Wahrnehmung für die Gefühle und Bedürfnisse anderer. WIederum daraus erwächst bei manchen eine erhöhte soziale und emotionale Intelligenz, u. a. um Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen.
Kognitive oder kreative Überkompensation: Einige bilden hohe kognitive Leistungen, Kreativität oder Humor als Flucht aus dem Schmerz aus, als Möglichkeit, ein wenig Kontrolle zurück zu gewinnen. Kreativität und Resilienz entstehen, weil wir „innere Welten“ bauen müssen, um der äußeren zu entkommen.
Konzentrations- und dissoziative Fähigkeiten: Viele können ihren Körper oder die Realität „verlassen“, „outzonen“, körperlich anwesend sein, aber nicht mit Herz & Verstand, was früher in Extremsituationen sehr hilfreich war, aber einem im Erwachsenenleben langfristig schadet. Hingegen sind diese Fähigkeiten wiederum nützlich in bestimmten Berufen (Notfallmedizin, Krisenmanagement usw.), weil Früh-Traumatisierte auch unter Druck funktionieren.
Führende Experten, etwa Bessel van der Kolk, Gabor Maté, Peter Levine und Judith Herman, sehen diese Fähigkeiten als reine Überlebensmechanismen, die – ja – wertvoll sind, aber mit enormem Leid, Dysregulation und Verletzlichkeit daherkommen. So zeigte die Neurobiologie an Kindern in Bedrohungssituationen, dass sich ihr Gehirn anders entwickelt: mehr Aktivität in Amygdala (Angstzentrum des Gehirns) und Stressachsen, weniger im präfrontalen Kortex. Das fördert die emotionale Alarmbereitschaft bis hin zu kreativen Problemlösungen, gleichzeitig aber auch Ängste, Übererregung und Selbstzweifel – und in der Folge:
- Schlafstörungen
- latente Reizbarkeit, Impulsivität/Affektverhalten und Wutausbrüche
- Schreckhaftigkeit
- Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten (wegen der Dauer-Überspannung des Nervensystems)
- ständige Wachsamkeit und Anspannung
- Misstrauen
- Selbstverlust (wie wir ihn auch bei bindungsängstlichen Menschen sehen).
Der Körper verharrt dabei in einem „Kampf-oder-Flucht“-Modus, selbst wenn keine akute Gefahr besteht. Die außergewöhnlichen Fähigkeiten sind also teuer erkauft, unfreiwillig, übersteigert und mit starken Nebenwirkungen verbunden (um nur einige zu nennen). Denn diese Überlebensstrategien müssen erst integriert werden, damit man sie gesund und freiwillig nutzen kann.
So, ich bin also anders?!
Die Notwendigkeit der Integration potenziert sich ins Unermessliche, wenn Trauma auf Neurodivergenz trifft: Als neurotypisch gelten Menschen, die Informationen und Reize ohne Abweichungen von der Norm verarbeiten. Weicht die Verarbeitung von der Norm ab, nennt man das neurodivergent. Darunter fallen:
- Autismus-Spektrum (ASS)
- ADHS/ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, mit und ohne Hyperaktivität)
- Lernstörungen (z. B. Dyslexie/Legasthenie, Dyskalkulie, Dysgraphie)
- Tourette-Syndrom und Tic-Störungen
- Epilepsien mit neuropsychologischen Besonderheiten
- Dyspraxie (Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung, DCD)
- Hochbegabung/intellektuelle Hochleistung (wenn verbunden mit sensorischen oder sozialen Herausforderungen) – Lies auch für hochbegabte Frauen >>
- Hochsensibilität (umstritten, aber oft als Teil neurodivergenter Profile diskutiert)
- Synästhesie (Verschmelzung von Sinneswahrnehmungen)
- Schizotypie (Persönlichkeitszüge mit ungewöhnlichen Wahrnehmungen und Gedankenmustern)
- Bipolare Störung (in manchen Kontexten unter Neurodivergenz diskutiert)
- Epileptiforme EEG-Muster ohne klinische Anfälle (selten, aber relevant bei „atypischem“ Verhalten)
Der Begriff Neurodivergenz wird für dauerhafte, angeborene und sehr frühe Unterschiede verwendet, weniger für akute psychische Erkrankungen wie z. B. eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Wenn eine angeborene Neurodivergenz und frühes Trauma zusammentreffen, verstärken sich die Anpassungsmechanismen und Überlebensstrategien erheblich. Das Nervensystem ist bereits von Geburt an „anders“ verschaltet, weniger flexibel, empfindlicher auf Reize oder weniger robust gegen Dysregulation. Das führt häufig zu stärkeren Dissoziationen, weil der Körper bereits eine geringe Stresstoleranz hat, noch ausgeprägterer Hypervigilanz, weil die Filter- und Hemmmechanismen schwächer sind, massiver Überanpassung, um soziale Ausgrenzung doppelt zu vermeiden, und einem hohen innerer Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Rückzug (durch die Neurodivergenz) und dem Drang nach Zugehörigkeit (Überlebensinstinkt).
Frühe Traumata können das Gehirn aber auch in der Entwicklung so prägen, dass es nachhaltig anders funktioniert (epigenetisch, neuroplastisch), vor allem bis zum 6.–7. Lebensjahr, wenn die Synapsenbildung und die emotionale Architektur des Gehirns hochsensibel sind. Das betrifft u. a. die Stressachsen, das limbische System, das Selbst- und Körperempfinden, die Verknüpfung von präfrontalem Kortex und der Amygdala. Diese Veränderungen können lebenslang bleiben und neurodivergent wirken, vor allem in Bezug auf Reizverarbeitung, Dissoziation, Emotionsregulation, Wahrnehmung und dem Bindungsverhalten. Meint:
Frühe Traumata können das Nervensystem so umstrukturieren, dass die Betroffenen in Wahrnehmung, Regulation und sozialen Fähigkeiten ähnlich von der Norm abweichen wie Menschen mit angeborenen neurodivergenten Profilen.
Aber: In der Fachliteratur wird das bisher als „traumabedingte neurologische Anpassung“ (etwa Entwicklungstrauma) oder „komplexe PTBS“ diskutiert/bezeichnet, nicht als Neurodivergenz. Was die Notwendigkeit der Differenzierung und Heilung nur weiter verstärkt.
MICH gibt es nicht (mehr).
Das psychologische Konzept der Traumaspaltung beschreibt aber grundsätzlich einen Schutzmechanismus des Geistes, der in Momenten extremer Überforderung aktiviert wird. Ist ein Erlebnis emotional, körperlich oder existenziell so stark, dass es vom Bewusstsein nicht verarbeitet werden kann, trennt das System bestimmte Erlebnisinhalte ab. Diese Abspaltung betrifft Gefühle, Körperempfindungen, Handlungsimpulse und/oder Identitätsteile. Sie werden aus dem bewussten Ich-Erleben ausgelagert, um das Überleben zu sichern.
Man spricht dann von der eben genannten Dissoziation: ein Teil bleibt funktional im Alltag präsent, ein anderer bleibt „eingefroren“ in der Zeit, im Nervensystem, im Unbewussten. Diese abgespaltenen Teile verändern sich nicht weiter, denn sie wurden von der psychischen Gesamtentwicklung abgetrennt. So tragen sie das Ereignis, wie es damals empfunden wurde, samt Angst, Ohnmacht, Schuld, Kontrollverlust, Schmerz oder Scham, ungefiltert und unverändert weiter.
Die Folge ist eine innere Fragmentierung: Der Mensch lebt weiter, funktioniert, trifft Entscheidungen, führt Beziehungen, doch in ihm existieren unintegrierte Selbstanteile, die autonom wirken. Sie äußern sich z. B. durch Flashbacks, plötzliche Affekte, „nicht erklärbare“ Reaktionen, Blackouts, Persönlichkeitswechsel, chronische Leere oder das Gefühl, „nicht ganz da“ zu sein. Diese Spaltung geschieht automatisch: Das Gehirn trennt, was nicht zu ertragen ist. Die Therapie solcher Zustände zielt deshalb auf Kontaktaufnahme mit dem abgespaltenen Anteil ab, auf sichere Reaktivierung und auf behutsame Reintegration. Erst, wenn das fragmentierte Selbst wieder Verbindung zu den verlorenen Anteilen herstellen kann, entsteht ein gesunder innerer Zusammenhang:
und damit emotionale Sicherheit, Ich-Stabilität und psychische Ganzheit.
Der Tod des alten Ichs: Wenn die Masken fallen
Im Schamanismus spricht man davon, verloren gegangene Seelenanteile zurückzuholen, u. a. weil man sie zur Erfüllung des Potenzials benötigt. Vorangegangen ist ein Seelenverlust (durch Traumata, Schocks, Trennungen, Gewalt, Verluste oder emotionale Überforderung), also wenn ein Mensch ein Erlebnis gemacht hat, das sein System als zu überwältigend empfand, um es vollständig zu verarbeiten. Das Konzept des Seelenverlusts weist strukturelle Parallelen zum psychologischen Konzept von Traumaspaltung oder Dissoziation auf. Beide Modelle beschreiben am Ende den Vorgang, dass ein Teil des Selbst abgespalten wird, um das gesamte psychische System vor Überforderung oder Zusammenbruch zu schützen.
Aus schamanischer Sicht spaltet sich auch ein Teil der Lebenskraft, nicht nur der Identität oder des Bewusstseins ab, und zieht sich aus dem Energiefeld zurück, um „an einem sicheren Ort“ zu verweilen. Selbstschutz. Die Folge: Der Mensch lebt funktional weiter, ist aber innerlich fragmentiert. Die Rückholung des Seelenanteils bedeutet daher:
Ein abgespaltener Bewusstseinsaspekt wird ins gegenwärtige Feld zurückgeführt: als lebendige Präsenz, mit Gefühl, Ausdruck und innerer Bewegung. Der Mensch bekommt also Zugang zu einer Energie, die ihm zuvor gefehlt hat. Das kann Mut, Lebendigkeit, Klarheit, Sexualität, kindliche Freude, Nähe, Intuition oder Selbstwirksamkeit sein. Es wird neben dem Anteil selbst auch der Zeitpunkt zurückgeholt, an dem man sich selbst verlassen hat. Der Sinn dahinter ist dreifach:
- Reintegration (für mehr Lebenskraft)
- Handlungsfreiheit (solange ein Seelenanteil fehlt, übernimmt eine Ersatzstruktur, z. B. ein Überlebensmodus, Kompensationsverhalten, psychische Schutzmauern)
- Bindungsfähigkeit (für die Kapazität für echte Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt). Die Rückholung bringt Kontakt mit den verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen, was die Fähigkeit zur Verbindung zu allem stärkt.
Gleich, welchem Glaubenssystem du folgst: Das kann rein psychologisch sein mit dem Höheren Ich aka Es nach Sigmund Freud, was eben will, was es will. Du kannst es im göttlichen/religiösen Kontext verstehen und sagen „Ich lasse Gott darüber entscheiden, wie ich ihm diene und wodurch“ bis hin zu „Niemand kann die Aufgabe erfüllen, die nur ICH erfüllen kann“. Oder du betrachtest es im rein spirituellen-esoterischen Sinn in Verbindung mit dem Universum, wenn du sagst „Jeder hat eine Aufgabe in dieser Welt“ – „Ich folge meiner Berufung“.
Der Weg zurück und vor: Tod und Neugeburt ins wahre Selbst
Der Weg muss gegangen werden – der erste Schritt liegt in unserer Verantowrtung. Jede Rückholung der verlorenen Anteile mit welcher Methode auch immer ist ausschließlich nur dann wirksam, wenn man bereit ist, diesen Anteil nicht nur zu empfangen, sondern auch im Alltag bewusst zu integrieren. Sonst kann die Energie nicht bleiben, sondern zieht sich wieder zurück.
Für viele – einschließlich mir selbst – hieß bzw. heißt das, eine bewusste Eentscheidung zu treffen, nicht nur darüber, wer man sein will – nach allem, was passiert ist -, sondern einen bewussten Ausdruck des wahren Selbst zu finden (und zu wählen). Es ist der Tag, an dem man sich für sich entscheidet, samt aller Konsequenzen für das Jetzt und Morgen, samt aller lichten und verborgenen Seiten des Selbst, gleich, wem und OB sie gefallen.
Zwischen Vakuum und freiem Fall
Doch der Schritt dahin war schwer – zumindest meine Klient:innen stimmen mir da immer wieder zu. Es ist keine Kleinigkeit, sich von heute auf übermorgen oder kommenden Monat aus der alten Haut zu schälen und wie neugeboren durch die altbekannte Welt zu laufen – zumindest nicht im selben Umfeld, das nur die alte Version des Ichs kennt. Die meisten haben wie ich wesentliche Persönlichkeitsmerkmale und Fähigkeiten über Jahre bzw. Jahrzehnte hinweg verheimlicht oder überspielt,
- um nicht aus der Reihe zu fallen
- um zu GEFALLEN
- um Teil sein zu dürfen
- um irgendwo dazuzugehören
- und einen Sinn für sich selbst in dieser Welt zu fühlen.
Zwar lernten die meisten wie ich auch, dass das null Spaß und Freude oder gar inneren Frieden brachte, stattdessen nur Ambivalenz. Doch unser Eindruck war geprägt. WIR hatten ihn hinterlassen. Selten gelingt es, dann so ganz verändert und sozial wenig legitimiert ins selbe Umfeld zurückzugehen und zu sagen: „In euren Strukturen via Anpassung und Maskierung überleben zu müssen, wirft die Frage auf, ob ich je in eure Strukturen hineingepasst habe. Und ich fürchte, die Antwort lautet: Nein. Mein Fehler! 😀 Aber hey, hier bin ich! Ist doch okay, oder?“
Selten – wenn es auch Ausnahmefälle gibt – ist die Reaktion positiv, ganz besonders in neuotypischen Umfeldern. Meine ehrliche Meinung: Es lag doch zu oft an UNS. Hätten wir uns nicht verstellt, nicht maskiert, nicht aus Angst vor Ablehnung/Isolation wesentliche Anteile unseres Selbst verschleiert oder hätten nicht so getan, als wären wir den anderen ähnlich oder gleich, wäre die Situation anders. Hätte man uns sofort bewertet und ggf. exkludiert? Möglich bis wahrscheinlich. Würde es uns aber dann noch immer schwerfallen, das zu akzeptieren? Ich meine, nein. Es hätte nie eine Anpassungsphase unsererseits gegeben, in der wir uns bemühten, zu zeigen, dass wir es wert sind, Teil dessen zu sein. Wir hätten erkannt, „die sind es nicht“, hätten stattdessen Ausschau nach Gleichgesinnten gehalten, uns erst gar nicht mit Ungleichgesinnten beschäftigt. Wir hätten es weder auf sie noch auf uns bezogen, hätten nicht gesagt „wir sind schuld“ oder „ihr seid schuld“, sondern: „Ich habe nichts mit ihnen zu tun und sie nichts mit mir.“
Könnte ich mein Leben noch einmal leben, würde ich genauso handeln.
Die Tragik aber am Punkt Tod und Neugeburt ist diese: Wir müssen loslassen, was andere UND WIR SELBST von uns denken und halten – auch, wenn es Ausschluss und Trennung bedeutet. Denn nur dann können wir Verbundenheit und Zugehörigkeit finden – und als schöpferisch, wertvoll und zukunftsfähig kennenlernen. Wir haben sehr wahrscheinlich im GEBEN & NEHMEN immer nur das Geben ODER das Nehmen priorisiert und das Gegenteil verlernt. Das muss nachgeholt werden. Wir müssen GEBEN und/oder ANNEHMEN lernen, raus aus dem „Beweismodus“ und somit auch lernen für die Zeit dazwischen, dass es okay ist, allein zu sein, uns missverstanden und abgelehnt zu fühlen.
Aber eine Lektion wird immer BLEIBEN, weil Tod und Neugeburt eben diese birgt und als Schatz gehoben werden muss, um man SELBST und WAHR zu SEIN:
Die Verantwortung liegt bei dir. Den Mut, dich so zu zeigen, wie du bist, kann dir niemand abnehmen. Die Welt prüft nicht, ob du „richtig“ bist. Sie reagiert nur auf das, was du von dir präsentierst. Dein Trauma mag erklären, warum du dich versteckt hast, aber es entschuldigt nicht, dass du es weiter so ausagierst wie bisher.
Der Schatz von Tod und Neugeburt liegt genau dort: in der nüchternen, kompromisslosen Bereitschaft, alle Versionen von dir loszulassen, die du gespielt hast, und endlich die Person zu sein, die du bist, egal, wer bleibt oder geht.
Von Herzen alles Liebe für deinen Weg
Janett Menzel
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